Regelmäßig isses wieder soweit. Empathie wird als Wundermittelchen der Wirtschaft angepriesen. Hier beispielsweise:
„Empathie ist eine der wichtigsten Fähigkeiten der Gegenwart und Zukunft.“ (1)
Und alle so: yeah, genau, endlich, danke! 808 Likes innerhalb von 24 Stunden. Da fliegen die Herzchen nur so. Denn: Wünschen wir uns nicht alle eine (Arbeits-)Welt, die stärker von Empathie durchdrungen ist? Was zur Hölle gibt’s daran schon wieder auszusetzen? Kann man nicht einfach mal nen positiven Vibe verbreiten? Und was muss das für ein Schuft sein, der ausgerechnet an Empathie Anstoß nimmt und die fröhliche Party crasht? Sowas machen doch nur toxische Misanthropen!
Diesen Reflex kann ich total nachvollziehen. Nicht mal bei der Empathie werden die Leute in Ruhe gelassen. Und doch bin ich nicht nur komplett anderer Ansicht, sondern möchte ein paar Gedanken dazu teilen. Denn ich glaube, dass orientierungsloses Leadership-Gelaber über Empathie und ähnliche Phänomene letztendlich toxisch ist. Darum geht’s in diesem Artikel.
Taugt Empathie als Wundermittel?
Lasst uns vielleicht zuerst auf die Fakten schauen. Taugt Empathie als Wundermittel der Wirtschaft? Schön wärs. Doch das ist leider falsch. Seufz. Warum?
Empathie ist ein zweischneidiges Schwert. Andreas König, Lorenz Graf-Vlachy, Jonathan Bundy und Laura M. Little deklinieren das am Beispiel von CEOs in Krisen sehr eindrucksvoll durch (2). Empathie bringt demgemäß einerseits viele Vorteile mit sich. So lassen sich durch Empathie Warnzeichen für Fehlentwicklungen besser erkennen. Das durch Empathie ermöglichte Mitgefühl führt allseits zu einer größeren Wertschätzung. Und nach Krisen erleichtert Empathie die Beziehungsarbeit zur Heilung der aufgerissenen Wunden. Empathie bringt andererseits aber auch Nachteile mit sich. Empathische Menschen neigen eher zu Fehlalarmen. Sie verarbeiten krisenbezogene Informationen voreingenommener und sie unterschätzen nach Krisen die Wichtigkeit der Wiederherstellung der strukturellen Komponenten zugunsten der zwischenmenschlichen.
Empathie von Bundesligatrainern
Ich kenne das aus meiner Arbeit als Coach im Fußball. Bereits mehrfach habe ich mit Bundesligatrainern (leider nicht gegendert) gearbeitet, die unter ihrer hohen Empathie litten. Diese Empathie war einerseits toll und in verschiedener Hinsicht vorteilhaft. Empathische Trainer haben feinere Antennen und bekommen unterschwellige Strömungen und Entwicklungen in Mannschaften eher mit. Sie können Menschen besser verstehen und persönliche Entwicklungen besser begleiten.
Parallel müssen Trainer aber regelmäßig hartes, nach außen sichtbares Leistungsfeedback geben. Wer spielt, wer sitzt auf der Bank, wer auf der Tribüne? Manche Trainer können nachts nicht schlafen, weil sie sich mit den Folgen ihrer Entscheidungen für die Betroffenen herumschlagen. Sie grämen sich darüber, dass sie Nachwuchsspielern womöglich emotionale Probleme bereiten könnten. Und sie fühlen sich ausgebrannt, weil sie so intensiv mitfühlen. Und da sind wir noch nicht einmal beim familiären Druck, etwa wenn die eigenen Kids in der Schule hart gehänselt werden, weil Papas Mannschaft am Wochenende verloren hat. Und so weiter. Es frisst die Leute auf. Der medizinische Fachbegriff dafür lautet Mitleidsstress (“compassion stress injury”) und äußert sich klinisch bis hin zu Burnout, sekundärem traumatischen Stress, stellvertretender Traumatisierung, Mitleidsermüdung und Ermüdung durch Empathie (3). Klingt abwegig, ist aber gar nicht selten.
Schlimme Dinge aufgrund von Empathie
Und als ob das alles noch nicht genug wäre, verführt uns Empathie bisweilen zu kontraproduktiven Dummheiten (4). Empathie kann uns zu unangebrachter Parteinahme verleiten, wodurch Polarisierungen unnötig verstärkt werden. Es gibt auch egoistische Formen der Empathie, die keinesfalls ungewöhnlich oder unbekannt sind. Vermutlich haben viele von uns schon mal Energievampire erlebt. Oder habt Ihr Helicopter-Eltern im Freundeskreis? You name it. Persönlich finde ich noch das Konzept der gefilterten Empathie spannend. Empathie ist nämlich nicht zwingend altruistisch. Anstelle direkter Empathie mit einer bedürftigen Person motiviert in solchen Fällen ein mentales Verrenkungsmanöver das Verhalten: die Identifikation mit einer Drittperson. Wir kennen das bezogen auf Macht aus der Werbung. Warum kaufen die Leute Fußballschuhe von Lionel Messi? Weil sie sich mit Messi identifizieren und den cool finden. Gibts als Motiv für Empathie auch.
Das ist in Summe schon eine ganze Menge an Nachteilen und diese Zweischneidigkeit von Empathie ist auch der Grund, weshalb die Effekte von Empathie in der Arbeitswelt so winzig ausfallen (5). Unser Wissen über Empathie und deren Auswirkungen ist insgesamt noch überraschend klein. Vermutlich gibt es leicht positive Effekte. Aber sicher nix Wildes. Vielleicht existieren umgekehrt U-förmige Beziehungen zwischen Empathie und anderen Variablen. Also eine Art Idealausprägung an Empathie für bestimmte Situationen. Zu viel Empathie ist da nicht gut, zu wenig aber auch nicht. Unser Verständnis ist aktuell noch fragmentarisch. Das Gerade von Empathie als „eine der wichtigsten Fähigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ ist jedoch schlicht Mumpitz und entspricht nicht unserem heutigen Wissen. Für die Zukunft kann ich das noch nicht seriös beantworten, denn meine Glaskugel hat der Goldfisch gefuttert.
Es gibt nicht „die Empathie“
Hinzu kommt, dass es „die Empathie“ gar nicht gibt. Wer Empathie als „eine der wichtigsten Fähigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ bezeichnet, unterliegt gleich mehreren Fehlwahrnehmungen. So ist Empathie nur teilweise eine Fähigkeit, teilweise aber auch eine Eigenschaft. Diese Unterscheidung klingt irgendwie unwichtig und spitzfindig. Sie isses aber nicht. Fähigkeiten sind gut erlernbar. Eigenschaften eher nicht. Nun weist Empathie starke Eigenschaftsanteile auf, ist also nur bedingt erlernbar. Wer Empathie stark als Fähigkeit bewirbt, suggeriert insofern eine Trainierbarkeit, die gar nicht vorhanden ist.
Außerdem variiert Empathie bei Menschen überraschend stark zwischen Situationen. Wir sind also gar nicht immer empathisch oder weniger empathisch, sondern können durchaus mal sehr empathisch in einigen und komplett unempathisch in anderen Situationen sein.
Und schließlich hat Empathie drei verschiedene Ebenen. Empathie umfasst das Verstehen (kognitive Ebene), das Mitfühlen (affektive Ebene) und das Verhalten (behaviorale Ebene).
Es gibt also nicht „die Empathie“, weder als reine erlernbare Fähigkeit noch situationsübergreifend stabil und schon gar nicht eindimensional.
Warum der Schaum vorm Mund?
Wieso nun jedoch der Schaum vorm Mund? Warum die Empörung? Was soll daran toxisch sein?
Denn natürlich wäre ein Arbeitsplatz traumhaft, der von genuinem Interesse an den Mitmenschen, von aufrichtigem Mitgefühl und generell von großer Herzlichkeit geprägt ist. Keine Frage. Es wäre schön, wenn sich die Welt in diese Richtung drehen würde. Problematisch ist jedoch der normative Anspruch in Kombination mit den unsinnigen Vereinfachungen und der rosaroten Pinselei des Leadership-Gelabers auf Social Media.
Dadurch werden bei Mitarbeiter:innen absurde Erwartungen geweckt, die dann in der Folge zwangsläufig an der Realität zerschellen und zu Frustration führen. Bei Jugendlichen sind ähnliche Effekte bereits gut beschreibbar und empirisch nachgewiesen. Zum Beispiel auf Instagram. Die Rezeption einer beschönigten, manipulierten und brutal vereinfachten Welt verändert die Selbstwahrnehmung negativ. Man wird unzufriedener mit sich und seiner Umgebung (6). Parallel finden soziale Beeinflussungsprozesse statt, die sich an den geschönten Onlinewelten orientieren und in der die eigene Blase immer merkwürdig schal daherkommt (7). Ich vermute, dass Leadership-Gelaber in ähnlicher Richtung toxisch wirkt. Es macht die Menschen unzufrieden und krank. Bei den Kids isses Insta, bei den Eltern LinkedIn und Xing. Allerdings sind uns die Kids schon voraus mit Konzepten wie Body Positivity. Sowas brauchts nach meiner Auffassung auch für die Arbeitswelt.
Außerdem werden Führungskräfte in die Irre geführt. Wer dem Leadership-Gelaber verfällt, müht sich mit nutzlosem Zeugs ab, wird abgelenkt, hat dadurch zu wenig Zeit für sinnvolle Dinge und macht in Summe einen schlechteren Job. Das führt zu mehr Unzufriedenheit und zu noch mehr Außenorientierung und zu noch mehr nutzlosem Schlangenöl. Ein Teufelskreis.
Aber auch die Personal- und Führungskräfteentwicklung von Firmen wird auf falsche Fährten gelockt. Es wird viel Geld für Personalentwicklung sowie für Keynotes von Influencer:innen aus dem Fenster geworfen, für das es sinnvollere Einsatzmöglichkeiten gäbe. Durch einen Fokus auf Quatsch kommt man zu schlechteren Ergebnissen, dadurch entsteht mehr Stress und das führt zu ebenjener schlechten Laune und mangelnden Empathie, die der eigentliche Startpunkt war.
Last, but not least kann das Streben nach unerfüllbaren Idealbildern heftige Negativfolgen haben. Gerade wenn der Eindruck erweckt wird, dass schwierig veränderbare Dinge wie Empathie als erlernbare Fähigkeiten hingestellt werden. Wenn sich Führungskräfte gegen ihre eigene Natur verbiegen, um einem vielstimmig kolportierten Ideal nachzueifern, ist das gefährlich. Stress, Burnout, Depressionen. Nicht nur die Belegschaft braucht mehr Body Positivity im Arbeitsleben. Die Führungskräfte brauchen das auch. Lasst Euch nicht kirre machen, liebe Leute da draußen. Ihr seid schon mit sehr großer Mehrheit wirklich toll. Alle auf die eigene Weise. Das heißt nicht, dass man sich nicht verändern sollte. Aber die Dosis macht das Gift.
Drei konkrete Tipps
Doch nur durch Gemecker isses nicht getan. Hier ein paar Tipps, wie man selbst ganz konkret das erreichen kann, was womöglich mit dem Hinweis auf „Empathie“ gemeint ist:
– Die „VW-Regel“ ist ein Klassiker. Kennen vermutlich viele. Verliert dennoch nicht an Wichtigkeit. Formuliert keine Vorwürfe (das „V“), sondern Wünsche (das „W“). Haut also auf keinen Fall auf Eure Vorgesetzten mit der Empathiekeule. Das wäre, äh, Totschlag, um mal im Bild zu bleiben. Formuliert freundlich, was Ihr Euch ganz konkret in einer Situation wünscht. Bleibt dabei unbedingt auf einer beobachtbaren Verhaltensebene, die ihr mittels einer Ich-Botschaft beschreibt. Was habt Ihr konkret beobachtet, was hat das in Euch persönlich ausgelöst und was möchtet ihr stattdessen in Zukunft lieber?
– Empathie ist keine Einbahnstraße. Führungskräfte beklagen den gleichen Mangel an „Empathie“ wie die Geführten. Insofern ist es wenig sinnvoll, systemische Probleme einfach bei den Führungskräften abzuladen. Bleibt bei Euch selbst. Legt den Fokus bewusster auf die positiven Dinge. Gerade auch bei Euren Führungskräften. Was hat Euch gut gefallen? Welche konkreten Dinge haben Euch zum Lächeln gebracht? Wofür seid Ihr dankbar? Wo hat Euch jemand geholfen? In welcher Situation hat sich jemand reingehängt? Sprecht es aus. Gerade auch gegenüber den Führungskräften. Die bekommen nämlich häufig noch viel weniger Wertschätzung und erfahren viel weniger Empathie als der Rest. Das gilt übrigens besonders für das mittlere Management, das häufig von oben und unten gleichermaßen unter Druck gesetzt wird. Schätzt ganz bewusst, was Ihr bereits Positives habt. Das ist quasi die Body Positivity der Arbeitswelt.
– Geht kritisch mit vermeintlichem Wissen um. Holt Euch Eure Weisheiten aus seriösen Quellen und nicht aus Social Media. Macht Euch ein eigenes Bild. Lasst Euch insbesondere nicht von wohlklingenden Titeln (Professur! ex-Google! Aufsichtsratsmandate! Seriengründungen! CEOs! Innovation Evangelist! Spiegel-Bestseller!) beeindrucken. Die kochen erstens alle mit Wasser und setzen sich zweitens hoffentlich fürs große Geschäft aufs Klo. Achtet nicht auf die Verpackung. Achtet auf den Inhalt. Schaut idealer Weise, falls möglich, in die echte Fachliteratur oder erkundigt Euch, auf welchem Fundament die vermeintlichen Weisheiten so fußen.
Fazit
Soweit die Gedanken. In Summe will natürlich auch ich, dass die (Arbeits-)Welt ein besserer Ort wird. Wir erreichen das aber nicht durch oberflächliches Leadership-Gelaber, das auf schnelle Likes abzielt. Empathie ist eine Keule. Man kann andere Menschen außerdem nur sehr bedingt ändern. Man kann aber sich selbst ändern. Werdet also selbst aktiv. Wenn Euer Ziel mehr Empathie gewesen sein sollte: super! Übersetzt das in konkretes eigenes Verhalten. Vielleicht helfen die drei Tipps von oben ja dabei. Das würde mich wirklich freuen.
Also. Könnt Ihr damit was anfangen? Oder denkt Ihr Euch: okay, Boomer, laber nich.
Ansonsten, wo wir schon mal dabei sind: Man könnte auch ne Serie daraus machen. Leider ist da noch viel mehr. Jeffrey Pfeffer nennt das Problem „The Leadership Industry“(8). Nächste Haltestelle Motivation? Bei breitbeinig vorgetragenen Thesen wie „Alles Führen ist Demotivieren!“ oder „Warum sie ihre Mitarbeiter:innen nicht motivieren können!“ dreht sich mir auch regelmäßig der Magen um. Was meint Ihr?
Quellen
(1) https://www.linkedin.com/posts/prof-dr-yasmin-wei%C3%9F-731a51157_empathie-futureskills-vulnerablefaeshrung-activity-7006508557751713792-RCV1?utm_source=share&utm_medium=member_android
(2) König, A., Graf-Vlachy, L., Bundy, J., & Little, L. M. (2020). A blessing and a curse: How CEOs’ trait empathy affects their management of organizational crises. Academy of Management Review, 45(1), 130-153.
(3) Russell M. & Brickell, M. (2015). The “Double-Edge Sword” of Human Empathy: A Unifying Neurobehavioral Theory of Compassion Stress Injury. Social Sciences, 4(4), 1087-1117.
(4) Breithaupt, F. (2018). The bad things we do because of empathy. Interdisciplinary Science Reviews, 43(2), 166-174.
(5) Clark, M. A., Robertson, M. M., & Young, S. (2019). “I feel your pain”: A critical review of organizational research on empathy. Journal of Organizational Behavior, 40(2), 166-192.
(6) Ahadzadeh, A. S., Sharif, S. P., & Ong, F. S. (2017). Self-schema and self-discrepancy mediate the influence of Instagram usage on body image satisfaction among youth. Computers in Human Behavior, 68, 8-16.
(7) Sherman, L. E., Greenfield, P. M., Hernandez, L. M., & Dapretto, M. (2018). Peer influence via instagram: Effects on brain and behavior in adolescence and young adulthood. Child Development, 89(1), 37-47.
(8) Pfeffer, J. (2015). Leadership BS: Fixing workplaces and careers one truth at a time. HarperCollins.
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