Bei Themen rund um die Arbeit gelangen Expert:innen häufig zu krass gegensätzlichen Empfehlungen. Wie entstehen diese Widersprüche, wem kann man glauben und was hat das mit den Amish People zu tun?
Sowohl Klaus Eidenschink als auch Mitja Back befassen sich intensiv mit Narzissmus. Beide sind höchst ausgewiesen, erhalten viel Aufmerksamkeit und sind offensichtliche Experten. Beide behaupten jedoch Gegenteiliges. Mitja Back hält Narzissmus für ein Persönlichkeitsmerkmal und sieht positives Potential. Spannend mit Blick auf diesen Beitrag hier ist besonders ein Auszug aus einem interview mit Bärbel Schwertfeger von Business Psychology Today:
„Schwertfeger: Es heißt oft, Narzissten sind eigentlich unsicher und schwach und müssen das durch ihre Grandiosität kompensieren. Sie nennen das den Masken-Mythos. Stimmt der auch nicht?
Back: Das ist eine alte psychoanalytische Idee, wobei eine kalte Erziehung innerliche Schwäche und Leere erzeugen soll. Und die muss dann überdeckt werden durch die eigene Großartigkeit. Das klingt erst mal gut. Das Problem ist aber, dass wir keinerlei Evidenz dafür haben. Egal wie wir den Selbstwert messen.“
Svenja Hofert nahm das freundlich-positiv kommentierend auf und Klaus Eidenschink reagierte angefressen:
„Eidenschink: Leider ist das Buch von Back eines derer, die im Gewande von Wissenschaftlichkeit besonders großen Unsinn verbreiten. […] Menschen in narzisstischer Not WISSEN nichts von ihrer Unsicherheit. Daher können sie darüber auch nicht Auskunft geben bzw. wirken authentisch sicher. Erst wenn ihre Selbstwahrnehmung dies wieder ermöglicht, können sie die Unsicherheit wieder SPÜREN.“
Wie kommen so gegensätzliche Meinungen zustande?
Wenn man selbst nicht tief in den Themen steckt, kann man sich schon fragen, was denn nun richtig und was falsch sein soll. Wie kann es sein, dass zwei Koryphäen zu so drastisch unterschiedlichen Bewertungen gelangen?
Ihr kennt das vielleicht selbst. Da schreibt jemand was und ihr denkt so: Das kenne ich total anders, das wurde mir anders beigebracht und die empirische Sachlage ist auch anders. Wie kommen die nur zu dieser bekloppten Einschätzung? Hier als Beispiel mal ein ganzes Bündel populärer Ratschläge des Grauens aus dem Bereich Führung & Transformation. Die sind aus meiner Sicht allesamt nachweislich Unfug:
- Die Verhältnisse schaffen das Verhalten. Nicht umgekehrt.
- Man kann Menschen nicht motivieren, sondern nur demotivieren.
- Das Unterbewusste ist enorm wirkmächtig.
- Alles Relevante über Organisation wurde im letzten Jahrhundert bereits gedacht.
- Die Haltung von Menschen kann man nicht ändern.
Puh. Alle genau so gefallen. Das sind direkte Zitate von renommierten Menschen. Jede einzelne dieser Behauptungen könnte ich anhand empirischer Erkenntnisse wirklich eindeutig widerlegen. Wie kann das sein?
Was bitte soll Ontologie sein?
Der Kern des Widerspruchs heißt: Ontologie. Das hat nix mit Vogelbeobachtung zu tun. Es geht um die Frage, wie sich Wirklichkeit wahrnehmen, beschreiben und erklären lässt. Und da klaffen die Auffassungen krass auseinander.
Auf der einen Seite steht der geisteswissenschaftliche Ansatz, vor allem der „radikale Konstruktivismus“, der bezogen auf Organisationen insbesondere in der klassisch deutschen Systemtheorie viele Fans hat. Dieser radikale Konstruktivismus lehnt naturwissenschaftliche Forschung in den Sozial-, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften ab. Die Begründung dafür lautet, dass man für ein Bild der Wirklichkeit erstens durch das Auge der Betrachtenden blicken müsste. Konstruktivismus. Das sei zweitens aber gar nicht möglich oder sinnvoll, denn auch dem eigenen Auge sei aufgrund von Verzerrungen nur bedingt zu trauen. Radikaler Konstruktivismus. Im Ergebnis gibt es demnach keine Objektivität, man kann nichts verallgemeinern und jede Wahrnehmung ist subjektiv. Entsprechend sinnlos findet jemand mit dieser Brille klassische quantitativ-naturwissenschaftliche Forschung in unserem Bereich.
Auf der anderen Seite steht der naturwissenschaftliche Ansatz insbesondere in Gestalt des „Neopositivismus“. Dabei handelt es sich um die Idee, dass neues Wissen über die Messung von objektivierbaren Phänomenen gewonnen wird. Man möchte insbesondere kausale Wirkbeziehungen verstehen, um daraus konkrete Ratschläge zu entwickeln: das „warum“.
Wenn also ein Mitja Back davon spricht, dass sich beim Narzissmus die psychoanalytische Idee des Überdeckens eigener Schwächen durch ein aufgeblasenes Selbstbild nicht messen lässt, dann ist das absolut richtig aus dieser Perspektive. Eine Messung ist im Kern nichts anderes als die Zuordnung einer Beobachtung zu einer Zahl. Was nicht beobachtbar ist, kann also auch nicht gemessen werden.
Die Zahlen, die sich aus einzelnen Messungen ergeben, lassen sich zusammenfassen und verarbeiten. Damit beschäftigen sich Mathematik bzw. Statistik. Das hat sich bewährt. So kamen Menschen auf den Mond.
Aber die Psychologie ist halt keine reine Naturwissenschaft. Verlässt man sich alleinig auf diesen Blickwinkel, fehlt etwas. Individuelle Unterschiede und Mechanismen werden planiert. Besonders schwierig beobachtbare Vorgänge bleiben unentdeckt. Die Wirklichkeit verliert in dieser Beschreibung wichtige Nuancen.
Wenn ein Klaus Eidenschink also die Aussagen von Mitja Back als „besonders großen Unsinn“ bezeichnet, dann ist das aus seiner Sicht genauso richtig. Dahinter steckt ein unterschiedliches Verständnis von Wissensgewinnung. Statistisch aufbereitete Kennziffern mögen zwar sehr gut darin sein, Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, Tendenzen vorherzusagen und für das Gros der Menschen eine Aussage zu treffen. Aber sie sind zugleich sehr schlecht darin, individuelle Fälle in der Tiefe zu verstehen und zu interpretieren. Das wiederum reklamiert die Psychodynamik für sich.
Nun kann man durchaus infrage stellen, ob Klaus Eidenschink qua Erfahrung, Expertise und Bauchgefühl besser in der Interpretation von Einzelfällen ist als andere Psycholog:innen. Im Selbstbild ist er das ganz offensichtlich schon und auch ich würde ihm nach Lektüre seiner Artikelserie über Narzissmus eine Menge zutrauen. Doch diese Argumentation ist zugleich gefährlich, denn sie öffnet Tür und Tor für alle möglichen Großmäuler, sie findet kein Ende und sie behindert Fortschritt. Das alles sind Vorwürfe, welche auch die Philosophie schon lange begleiten. Beklagt wird eine mangelnde Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit. Vor lauter Geblubber passiert halt nix, weil sich Richtig nicht von Falsch trennen lässt.
Ein Popper ist nicht zwingend der mit Gel in den Haaren
So weit, so klar. Oder? Wie löst sich das auf? Gar nicht. Die Organisationsforschung weist einen merkwürdigen Zwitterstatus auf und wird – etwas generalisiert – aus naturwissenschaftlichen und aus geisteswissenschaftlichen Positionen gespeist. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten vollkommen eindeutig die naturwissenschaftliche Position durchgesetzt. Wenn man auf Unklarheit oder Inkonsistenzen stößt, dann muss man demnach halt entweder die Messmethoden verfeinern oder Ergebnisse durch neuerliche Messungen prüfen oder noch konsequenter auf das Ausblenden von Störeffekten achten.
Wer sich die führenden Organe der heutigen Organisationsforschung anschaut, wird rein geisteswissenschaftliche Vorstellungen wie den radikalen Konstruktivismus quasi nicht mehr finden. Selbst die wenigen Möglichkeiten für die Publikation von theoretischen Abhandlungen bevorzugen Beiträge, die sich auf naturwissenschaftlich inspirierte Forschung beziehen. Beispiele für solche Zeitschriften sind etwa Academy of Management Review und Administrative Science Quarterly.
Woran liegt das? Das Zauberwort heißt „Falsifikation“. Der Begriff geht auf Popper zurück und ist das Rückgrat unserer Wissensgesellschaft. Innerhalb dieses gedanklichen Rahmens können wir überprüfen, was stimmt und was nicht. Wir können unsere Annahmen systematisch überprüfen. Wir können Richtig von Falsch unterscheiden. Das ist wahnsinng mächtig. Dadurch entsteht Wissen. Deshalb hat sich die Wissenschaft so stark in die naturwissenschaftliche Waagschale geneigt.
Ein Beispiel: Frauen in Führungspositionen
Ein Beispiel aus der Organisationsforschung: es gibt viel mehr Männer als Frauen in Führungspositionen. Je höher die Position, desto krasser das Ungleichgewicht. Selbst in Organisationen, die sich wirklich Mühe geben mit Gleichberechtigung, kommen Männer eher nach oben. Das ist eine klare empirische Beobachtung. Eine Beschreibung.
Möchte man daran etwas ändern, reicht eine Beschreibung nicht aus. Man braucht eine Erklärung. Warum ist das so? Eine Erklärung ist mehr als eine Beobachtung, weil sie den Wirkmechanismus beschreibt. Nur wenn wir den korrekt identifizieren, können wir Dinge verändern. Vorschläge für Erklärungen gibt es zwar immer viele. Das sind sogenannte Hypothesen. Zum Beispiel könnten Frauen weniger Aufmerksamkeit vom Top Management bekommen und deshalb seltener befördert werden. Solche Hypothesen können wir auf Korrektheit prüfen. Angewandt auf die Hypothese einer geringeren Aufmerksamkeit wissen wir heute, dass Frauen tatsächlich nicht weniger davon vom Top Management bekommen. Die Hypothese war plausibel, aber falsch.
Durch die Beobachtung von Verhalten haben wir bessere, richtige Erklärungen gefunden. Frauen und Männer in Führungspositionen verhalten sich nämlich zwar überraschend ähnlich. Das gleiche Verhalten wird bei Frauen jedoch anders und vornehmlich negativer interpretiert als bei Männern. Frauen melden sich außerdem weniger eigeninitiativ für Führungspositionen als Männer („opt-in“), sie ducken sich dafür aber nach einer Nominierung nicht weg („opt-out“). Wenn wir das wissen, können wir sinnvoll Dinge verändern. Manchmal heißt es ja „Don´t fix the women, fix the system.“ Aus Gründen.
Es sind solche Erkenntnisse, welche mit geisteswissenschaftlichen Methoden viel schwieriger zu erreichen sind.
Die verzweifelte Lage der Organisationssoziologie
Besonders deutlich zeigt sich das in der Organisationssoziologie. In Deutschland gab es mit Luhmann einen besonders wirkmächtigen Fan des radikalen Konstruktivismus. Das ist heute international aber so gar nicht mehr anschlussfähig und das zeigt sich auch empirisch.
Eine enorm umfangreiche Analyse der organisationssoziologischen Fachliteratur stellt seit den 50er-Jahren eine krasse Zunahme des naturwissenschaftlichen Ansatzes fest. Die geisteswissenschaftliche, nicht-quantitative deutsche Organisationssoziologie hat mittlerweile so gar nichts mehr zu melden und ist abgehängt.
Etwas boshaft könnte man zusammenfassend festhalten, dass die systemtheoretische Organisationssoziologie große Analogien zu den Amish People aufweist: beide verabscheuen moderne Technologie, beide verlassen sich auf die eigene Muskelkraft und beide glauben an die ewige Weisheit uralter Bücher. Was folgt daraus? Naja. Unter anderem viel Frust.
Der Frust der Psychoanalyse
Schauen wir uns beispielsweise die Psychoanalyse an. Der ergeht es nämlich ganz ähnlich wie den Fans von Luhmann. Das Ehepaar Petriglieri von der französischen INSEAD veröffentlichte kürzlich eine sehr umfassende Analyse des deprimierenden Status Quo der psychoanalytisch geprägten Organisationsforschung.
Wenn wir uns den Titel „the return of the oppressed“ genauer anschauen, dann ergeben sich daraus bereits zwei offensichtliche Rückschlüsse. Einerseits gabs offenbar eine gefühlte Unterdrückung. Oppressed. Andererseits erlebt Psychoanalyse wohl eine Rennaissance. Return. Gerade der letzte Punkt ist dabei spannend. Ich kann das in Deutschland besonders für die Systemtheorie unterschreiben. Fans von Luhmann feiern seit einiger Zeit ein beachtliches Comeback fernab der Wissenschaftselite im engeren Sinne. Das gelingt quasi ausschließlich in der Praxis und der praxisorientierten Literatur. Podcasts, Weiterbildungsplattformen, Beratungen kommen mit fancy Namen, großen Versprechen und klaren Ansagen daher. Sie werden in Bestenlisten gewählt, schreiben Bestseller und liefern Schlagzeilen. Es geht dabei meistens lautstark, oftmals boulevardesk zu. Und damit landen wir bei krass auseinanderklaffenden Empfehlungen der Expert:innen.
Fazit
Wozu nun dieser Text? Ich habe versucht, eine wesentliche Quelle für widersprüchliche Aussagen und Empfehlungen aus der Organisationsforschung zu erläutern. Was kannst Du damit konkret anfangen? Naja. Mein Ratschlag umfasst drei Punkte: Trust the Science, suche nach Widerspruch und bleibe skeptisch. So halte ich es zumindest. Etwas detaillierter:
1. Trust the Science. Frage nach Daten und schau genau hin. Von Edward Deming ist der folgende Satz überliefert: „In God we trust. All others must bring data.“ Und der unvermeidliche, weil großartige Peter Drucker stößt in dasselbe Horn: „You can´t manage what you can´t measure“. Da die Datenqualität in den international führenden Fachzeitschriften am kritischsten überprüft wird, findet sich dort nach meiner Überzeugung auch die stabilste Abbildung der Wirklichkeit. Und wenn ihr keinen Bock auf die kratzbürstige englische Fachliteratur habt, fragt vielleicht einfach hier auf der Plattform nach. Meine Erfahrungen damit sind echt positiv.
2. Suche nach Widerspruch: Weil die Wissenschaft so stark naturwissenschaftlich tickt und das in der Organisationsforschung halt nicht die ganze Wahrheit ist, schaue ich gerne nach links und rechts. Besonders interessant finde ich dabei Grenzgänger:innen, also Menschen aus beiden Welten. Wen ich in diesem Zusammenhang tatsächlich bewundere, sind Antoinette Weibel und Hans Rusinek aus St. Gallen. Beide haben mehr als ausreichend bewiesen, dass sie klassische Wissenschaft verstehen und betreiben können. Aber sie schauen sich viel stärker am Wegesrand um als das sonst üblich ist. Ein weiterer Tipp ist der Schwede Mats Alvesson. Der hat einen unfassbar breiten Output und ist mit Sicherheit in vielfältiger Hinsicht ein Nordstern. Für mich zumindest. Schaut es euch an, er ist definitiv ein streitbarer Geist. Und schließlich Wenzel Matiaske . Letzterer ist meines Wissens nicht auf Social Media aktiv, aber ich suche tatsächlich aktiv im Netz nach seinen Beiträgen. Mega Typ.
3. Bleibe skeptisch. Je außergewöhnlicher eine Empfehlung ist, desto besser sollte sie begründbar sein. Menschen und Organisationen werden sich niemals deterministisch beschreiben lassen. Da wird immer eine Unschärfe bleiben. Und das ist gut so. Wenn Dir aber jemand mit besonders spektakulären Behauptungen kommt, lass Dir in Ruhe den Hintergrund erklären. Das gilt übrigens nicht nur für geisteswissenschaftliche Behauptungen. Ein paar Beispiele für Unfug hatte ich oben bereits notiert. Das gilt aber leider nicht minder für naturwissenschaftlich verbrämten Quark. Ich empfehle zum Beispiel besondere Hellhörigkeit, wenn jemand im Bereich Leadership & Transformation mit Stichworten wie „Neurowissenschaften“, „Kybernetik“ oder „Quantentheorie“ kommt. Nach meiner Erfahrung ist dann die Wahrscheinlichkeit für Quatsch im Quadrat besonders groß.
Literatur
Grothe-Hammer, M., & Kohl, S. (2020). The decline of organizational sociology? An empirical analysis of research trends in leading journals across half a century. Current Sociology, 68(4), 419-442.
Petriglieri, G., & Petriglieri, J. L. (2020). The return of the oppressed: A systems psychodynamic approach to organization studies. Academy of Management Annals, 14(1), 411-449.
Petriglieri, G., & Louise Petriglieri, J. (2022). The work is alive! Systems psychodynamics and the pursuit of pluralism without polarization in human relations. human relations, 75(8), 1431-1460.
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